In the Ghetto

Als ich vor gut elf Jahren zum ersten Mal an meinen jetzigen Wohnort kam um mir meine jetzige Wohnung anzusehen, war ich verhalten begeistert. Die Hauptstraße hat zwar einige schöne alte Häuser, die aber alle nicht besonders gepflegt aussehen. Farbe abgeblättert, Fenster vernagelt, teils konnte man sehen, dass alte Ladengeschäfte bis oben hin mit Gerümpel voll gestopft waren. Aber dann ging es in eine kleine Seitenstraße und plötzlich war alles grün, die Häuser frisch gestrichen und eines dieser kernsanierten Häuser war mein neues Domizil.

Fußläufig waren zwei S-Bahnhöfe und diverse Busstopps erreichbar, sowie diverse Geschäfte. Autobahn auch um die Ecke. Und dann hatte mein kleines Nest auch noch einen Garten. Um die Ecke ein kleiner Park. Die Nachbarn kannten sich vorwiegend, man grüßte und hielt kleine Pläuschchen. Wenn irgendwo verdächtige Sachen passierten, warnte man sich Gegenseitig. Alles recht idyllisch, dafür, dass ich in einer großen Stadt wohne.

Über die Jahre wurden viele der Schrottimmobilien an der Hauptstraße weiter sich selbst überlassen, manche wurden neu bezogen. Ein Haus in unmittelbarer Nähe wurde schließlich saniert. Eine Freundin hatte Interesse, also fragte ich mich auf der Baustelle nach dem Vermieter durch. Dieser sprach kein Deutsch, holte mir jemanden ans Telefon, der mir dann erklärte, dass nur Flüchtlinge oder Harzt IV-Mieter gewünscht würden. Ich kratzte mich am Kopf und ging wieder.

Zunehmend verzichtete ich über die Jahre auf die S-Bahn. Denn die in unmittelbarer Nähe fährt so gut wie gar nicht mehr und um die andere zu erreichen muss ich ca. 15 Minuten besagte Hauptstraße entlang laufen. Nachdem ich mehrfach auf dem Weg zur Bahn Zeugin von Prügeleien und Sachbeschädigung wurde und auch manches Mal angepöbelt wurde, wenn ich darum bat mit vorbei zu lassen, wenn der Bürgersteig zur Kneipe umgewandelt wurde, nehme ich inzwischen fast nur noch das Auto. Denn zumindest meine kleine Seitenstraße war immer ruhig nachts und bis auf ein oder zwei Sachbeschädigungen an Nachbarsautos und einem Einbruchsversuch war hier über die Jahre nicht viel passiert. Dann musste ich abends noch mal zum Auto und wurde Zeugin, wie ein Mann eine Frau bei uns in den Zwischengang drängte. Ich sprach die Personen an, die Frau sagte, es sei nichts und ging weiter. Vermutlich Beziehungsstreit?

Dies war nur der erste von weiteren Zwischenfällen, in denen es sowohl lautstarke Auseinandersetzungen als auch Handgreiflichkeiten hier gab. Auch Schlägereien zwischen verschiedenen Kulturen sind hier nicht unüblich, da in unmittelbarer Nähe zwei sich nicht gerade grüne Gruppen aneinander Grenzen. Zu Massenschlägereien kam es auch schon und die Polizei tut nicht wirklich viel dagegen. Es ist auch fast filmreif, wie schnell die Beteiligten sich in Fluchtautos werfen und weg sind, während die Ordnungswächter hinter winken.

Nachts wird die Hauptstraße inzwischen regelmäßig zur Rennstrecke. Oder es fahren hupende Hochzeitskorsos durch die Nachbarschaft. Nachts wohlgemerkt. Der Müll stapelt sich täglich an den Ecken. Ratten tauchen hier besonders nachts auf, da der Supermarkt um die Ecke das tags heruntergefallene Obst und Gemüse nicht aufkehrt.

Eben dieser Supermarkt erfreut sich seit ein paar Jahren zunehmender Beliebtheit, hat aber kaum Parkplätze. Somit wird unsere Straße zugeparkt, Plastiktüten schwirren herum. Die Lieferanten parken in den Stoßzeiten direkt auf der Hauptstraße und verursachen jeden Tag lange Staus.

Abgerundet wird das Bild dann gern mal von Menschen, die Kopfüber in den Hausmülltonnen hängen oder Mitten am Tag gegen die Hauswände pinkeln.

Auch Hubschrauber kommen hier gern mal zum Einsatz. Zuletzt gestern Morgen um vier Uhr, weil die Polizei versuchte einen Serieneinbrecher zu stellen.

Entsprechend groß ist die Fluktuation der Mieter in unserer Straße. Abgesehen von den paar Eigentümern, wohnen hier nur eine handvoll Menschen so lang wie ich. Die Eigentümer sind nicht erfreut, wie sehr der Wert ihrer Immobilien zurück gegangen ist, aufgrund der Abwertung der Gegend. Unser Hausverwalter beklagt, wie schwer es ist vernünftige Mieter hier her zu bekommen. Die Oma von Gegenüber klagt, dass man hier ja gar keinen mehr kennt, so oft, wie Leute wieder weg ziehen. Denn die sanierten Häuser haben gehobenen Stil und sind entsprechend teuer. Aber sie stehen nun mal in einer Gegend, in der man nachts nicht mehr auf die Straße gehen möchte.
 
Es ist schon sehr traurig, wie sich eine nette Nachbarschaft in wenigen Jahren so entwickeln konnte. Auch ich werde bei nächster Gelegenheit meine Koffer packen. Denn ständiger Lärm und Müll aus dem Nebenhaus (der gern aus dem Fenster geworfen wird und dann bei mir im Garten landet) haben auch meine Nerven über die Jahre extrem strapaziert. Und ich fühle mich hier auch nicht mehr sicher.

In der letzten Zeit wurde im Freundeskreis oft diskutiert, ob man überhaupt noch Immobilien in der Stadt kaufen kann, da schon so oft Viertel plötzlich zum Ghetto wurden. Mal ganz davon ab, dass man dort dann nicht mehr Leben will, sinkt auch der Wert des Hauses oder der Wohnung. Das ist auch genau der Grund, warum ich hier nichts kaufe.

Eine Tendenz, dass sich diese Situation wieder bessert, sehe ich kaum. Die Werte des gemeinschaftlichen Zusammenlebens sind zunehmend nicht mehr existent, denn jeder sieht zuerst seine individuellen Bedürfnisse und Rücksichtnahme und Benehmen stehen vorwiegend noch im Duden. Vielleicht sollte man ein Schulfach einrichten, das Grundwerte vermittelt? Denn Zuhause lernen die Kids es ja scheinbar kaum noch.

Ich träume ja weiterhin von meiner einsamen Insel. Ohne Nachbarn in Hör- oder Sehweite.

Viele Grüße aus dem Ghetto

Pottnudel

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

12 vom 12.4.2023

Palim-Palim

WMDEDGT 04/23